Raus aufs Land
Von Vorreitern und von digitalen Pionieren
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Die Stadt Homberg hat digitale Arbeiter eingeladen, das Landleben „zu erobern“.
„Vom 01. April bis 30. September 2021 bieten wir euch in Homberg ein Rundum-Sorglos-Paket, bestehend aus einer möblierten Wohnung mit Internet, sowie kostenlosem Zugang zu einem eigens dafür eingerichteten Coworking Space.“ Quelle
Das Landleben war schon in der Vergangenheit immer mal wieder ein Sehnsuchtsort, der Chancen bot. (Malerkolonie, Jugendbewegung).
In den 80ern
In den 80er Jahren gab es eine starke Bewegung von Menschen, die aus den Ballungsräumen neue Lebensräume im Land suchten, fanden und aufbauten.
An die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg erinnern sich die einen an das Wirtschaftswunder, die anderen an die drückende lähmende Zeit, in der die Altnazis in Ämtern, Organisationen und Unternehmen das geistige Klima bestimmten, bis es zu einem Aufbruch dagegen durch die Studentenbewegung kam.
Aus ihr entstand eine gesellschaftliche Aufbruchstimmung, die Alternative in allen Lebensbereichen suchte und aufbauen wollte. Das Land im Abseits bot dafür einen Chance. Diese Bewegung hat auch in Homberg für Aufregung gesorgt. Als Schüler der Theodor-Heuss-Schule eine Gegenschule ausriefen und die Lehrer als Papiertiger bezeichneten, bekamen sie bundesweite Aufmerksamkeit.
Schwerpunkt Nordhessen
Kassel mit der neu gegründeten Gesamthochschule Kassel (GHK) zog viele an, die Alternative Techniken und Lebensformen entwickelten. So zum Beispiel Prof. Minke, der sich zum Lehmbaupapst entwickelte. Ulrich von Weizsäcker sorgte als GHK-Präsident dafür, dass in Witzenhausen ein Lehrstuhl für ökologische Agrarwissenschaft aufgebaut wurde.
Hier lehrte Ivan Illich, der zum Beispiel vor der Entmündigung durch Experten warnte. Mit Frithjof Bergmann wurde überlegt, wie Projekte Neuer Arbeit in Kassel entstehen könnten.
In Grebenstein entstand der Ökobuch-Verlag, der viele praktische Themen zum Lehmbau und anderen Projekten mit Publikationen begleitete.
Hessisch Sibirien: Starthilfe, Fachwerkbörse, Interessengemeinschaft Fachwerk Nordhessen (IFN)
Nordhessen galt als „hessisch Sibirien“, hier regierte die „Beton-SPD“. Trotzdem zog es in den 80er Jahren zahlreiche Menschen an. Ein besonderer Verdienst kommt Baudirektor Seehausen im Schwalm-Eder-Kreis zu. Er sah, wie die die alten Fachwerkhäuser leer fielen, die Eigentümer zogen es vor, am Stadtrand neue Einfamilienhäuser zu bauen. Seehausen entwickelte mit Werner Bätzing die Fachwerkbörse und gründete die Interessengemeinschaft Fachwerk Nordhessen (IFN).
In den Ordnern der Fachwerkbörse wurden zum Verkauf stehende Fachwerkhäuser erfasst. Der Verein IFN führte die Menschen zusammen, die alte Fachwerkhäuser instandsetzten. Diese Menschen engagierten sich auch gegen den Abriss alter Häuser, wie in Homberg am Obertor.
Auf der documenta 8 in Kassel protestierten sie mit einer Aktion gegen den Verlust der historischen Bauten. Die Homberger Stadthalle überlebte dank dieser Initiative.
Nach Auskunft des Architekten Helge Schröder, der die Fachwerkbörse weiterführte, haben über 100 Fachwerkhäuser neue Eigentümer gefunden, zumeist Menschen, die sich enthusiastisch für ihren Erhalt einsetzen. Er selbst hat ein altes Hofgut aus dem 17. Jahrhundert aufwendig saniert. In Kirchberg war es viele Jahre der Architekt Lindenthal, der sich für den Fachwerkerhalt und die IFN einsetzte.
Nicht zu vergessen Hilla Gietz / Peterova, in deren Fachwerkhof viele Veranstaltungen rund um den Fachwerkerhalt stattfanden.
Die Neubürger haben aus ihrem Umfeld weitere Fachwerkfreunde angezogen, die sich auch hier niedergelassen haben. Diese Vorreiter kamen um zu bleiben. Sie kamen, um hier im ländlichen Raum etwas Reales aufzubauen und legten oftmals selbst Hand an. Außer der Fachwerkbörse und dem Fachwerkverein gab es keine Unterstützung, keinen subventionierten Schnupper-Aufenthalte.
Impulse für die Regionalentwicklung
Von dieser Bewegung sind vielfältige Impulse für die Entwicklung Nordhessens ausgegangen.
Mit ihren Bauprojekten brachten die Vorreiter aus der Stadt Aufträge für die lokalen Handwerker. Lehmbau und ökologische Baustoffe wurden entwickelt, erprobt und eingesetzt. Daraus sind eigenständige Wirtschaftbetriebe mit eigenen Marken entstanden, wie zum Beispiel Isofloc mit der Zellulosedämmung. Über Uwe Welteke-Fabricius heißt es auf der heutigen Seite von isofloc:
Die isofloc Gründer haben bereits vor knapp 35 Jahren erkannt, dass es an der Zeit ist, sich der Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt zu stellen und auf Worte Taten folgen zu lassen. Sie haben einen ressourcenschonenden Dämmstoff entwickelt, der den Energieverbrauch von Gebäuden in besonderem Masse senkt und so einen spürbaren Beitrag zum Klimaschutz leistet. Quelle
Weitere Betriebsgründungen
Starthilfe Homberg
Die Starthilfe in Homberg wurde durch Zugezogene aus Berlin gegründet und betrieben.
Schwälmer Bauhütte
Aus dem Süden kam die Kernmannschaft der "Schwälmer Bauhütte", die nicht nur ihren Mittelhof in Gilsa, sondern sehr viele Fachwerkhäuser mit traditionellen Handwerk sanierten.
Jugendwerkstatt Felsberg
Die Jugendwerkstatt entstand auf Initiative von Neubürgern. Sie entwickelten und bauten solarthermische Anlagen und Photovoltaik-Anlangen. Hier sprach Robert Jungk, der Autor des Buches "Atom-Staat".
Die Landrosinen
Deutschlands zweitgrößtes Kulturnetzwerk privater Initiativen sind die Landrosinen im Gebiet zwischen Schwalm und Eder.
Der Kreis verweist stolz auf dieses Angebot, es ist zu einem Standortfaktor geworden, nicht nur für die Wirtschaft sondern auch für neue Kreative, die sich mit ihren Betrieben niedergelassen haben.
Unterschiede zu den digitalen Pionieren
Diese Vorreiter haben sich entschieden, sich in der nordhessischen Provinz niederzulassen,
die damals teilweise zum ehemaligen Zonenrandgebiet gehörte.
Die Pioneers kommen zum Schnuppern, sie wollen für sechs Monate das Leben in der ländlichen Region testen, unverbindlich und subventioniert. An Homberg bindet sie noch nichts, sie haben kein Haus gekauft und renoviert. Sie könnten als digitale Nomaden auch jederzeit in eine andere Region ziehen. Ihre Arbeit ist nicht mit Homberg verbunden. Sie haben weiterhin ihre Wohnungen, ihre Jobs und ihren Freundeskreis in der Stadt, aus der sie nach Homberg gekommen sind. Die Stadt Homberg ist in hohe Vorleistungen getreten, hat Wohnungen vorbereitet oder angemietet und sie möbliert und für Internetanschluss gesorgt.
Werden einige von ihnen bleiben oder sich in anderen Orte auf dem Land niederlassen? Was geschieht mit den Wohnungen, wenn die Pioneers sie nach einem halben Jahr wieder verlassen, gibt es Nachmieter? Über die Kosten dieses Experiments schweigt die Stadt.
Das Land wird zunehmend für die Bewohner der großen Städte interessanter. Die hohen Mieten in den Ballungsräumen lassen sich teilweise nicht mehr finanzieren. Für andere reicht ein Verdiener aus, wenn sie aufs Land ziehen. Menschen im Ruhestand ziehen aufs Land, weil sie dann mehr von der Rente für anderes behalten. Sie alle entscheiden sich für das Leben nahe der Natur auch ohne städtische Subvention und PR-Rummel.