Eine leise jĂŒdische Stimme zum 7. Oktober
Zum 7. Oktober werden vermehrt wieder nur die lauten Stimmen verbreitet.
Mehr Waffen, mehr Siege, mehr Vernichtung, mehr Tote.
Deshalb heute die Stimme des verstorbenen polnischen-jüdischen
Soziologen Zygmunt Bauman. (1925 -2017)
Das Vermächtnis eines der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. (Klappentext)
Zygmunt Bauman
Das Vertraute unvertraut machen
Ein Gespräch mit Peter Haffner
2017, Hoffmann und Campe Verlag
[Peter Haffner, Seite 56]
Weil Sie Jude sind, wurden Sie aus Polen vertrieben und verloren die polnische Staatsbürgerschaft.
Sie gingen nach Israel, blieben aber nicht lange.
Vom Zionismus fühlten Sie sich auch nicht angezogen, als Sie ihn näher kennenlernten. Weshalb nicht?
Ich fühlte mich vom Zionismus nie angezogen, das ist wahr. Warum ich nicht in Israel bleiben wollte?
Der Grund ist einfach. Ich kam nach Israel, weil ich aus Polen hinausgeworfen wurde. Von wem? Von polnischen Nationalisten. Und in Israel wurde ich aufgefordert, ein Nationalist zu werden, ein jüdischer Nationalist.
Es ist eine absurde und haarsträubende Idee, in einem Nationalismus die Medizin gegen einen anderen Nationalismus zu sehen. Die einzige Medizin gegen den Nationalismus ist, ihn inexistent zu machen.
Als ich in Israel lebte, publizierte ich einen Beitrag in Haaretz, der liberalen israelischen Tageszeitung, über das, was mir in meiner Zeit in Israel auffiel. Der Titel war sinngemäß »Es ist Israels Pflicht, sich für den Frieden vorzubereiten«.
Dieser Artikel enthält die einzige Vorhersage, die ich in meinem Leben gemacht habe, die sich als hundertprozentig richtig erwiesen hat. 1971 vorherzusagen, was mit der israelischen Gesellschaft, dem Geist der Israeli, dem Bewusstsein, der Moral, der Ethik usw. passieren wird, hat etwas Einsicht und Mut gebraucht.
Im Westen freute man sich immer noch über den Erfolg im Sechstagekrieg; ein kleines Land, das gegen große, mächtige Länder gekämpft und gesiegt hat. David gegen Goliath.
Ich sagte in dem Artikel, dass es keine humane Besetzung gibt und die israelische Besetzung von palästinensischem Territorium sich kaum unterscheide von anderen Besetzungen in der Geschichte. Alle waren sie unmoralisch, grausam und skrupellos.
Nicht nur das jeweils unterdrückte Volk trug einen Schaden davon, sondern auch die Besatzer.
Die Besetzung degradierte sie moralisch und schwächte sie auf lange Sicht.
Ferner prognostizierte ich eine Militarisierung des Denkens und der Macht in Israel, sagte,
dass die Armee die Nation regieren werde und nicht die Nation die Armee.
Und genauso geschah es, in einem Ausmaß, das selbst ich nicht zu prognostizieren gewagt hatte.
Etwa achtzig Prozent der Israeli von heute haben nie in einem anderen Zustand als dem des Krieges gelebt.
Krieg ist ihr natürliches Habitat.
Ich habe den Verdacht, die Tatsache, dass die Mehrheit der Israeli keinen Frieden möchte, teilweise daher kommt, dass sie die Kunst des Umgangs mit Problemen des sozialen Lebens im Friedenszustand verlernt haben. In einem Zustand, wo man ein Problem nicht lösen kann, indem man Bomben wirft und Häuser niederbrennt. Die Leute hatten nie die Gelegenheit zu lernen, wie man alternative Lösungen schwieriger Probleme findet. Andere Lösungen als die Ausübung von Gewalt. Sie haben die Gewalt im Blut. Es ist ihre Art, die Welt zu sehen.
Israel hat sich an einen Ort ohne Ausgang manövriert. In diesem Fall kann ich nicht einmal sagen, dass ich auf lange Sicht Optimist bin, was ich sonst eigentlich immer bin. Weil ich wirklich keine Lösung sehe. Ich sehe keine Lösung aus dem einfachen Grund, weil ich soziologisch denke. Um eine Lösung zu finden, muss es jemanden geben, eine genügend starke Gruppe von Leuten, die einen Plan implementiert.
Aber die Friedenskräfte in Israel sind marginalisiert, reduziert auf eine unbedeutende, einflusslose Gruppe, auf die niemand hört.
[Peter Haffner ] Bei den Palästinensern ist es nicht viel anders, was den Willen zum Frieden angeht.
Ja, da gibt es auch diese Intransigenz, diese Unversöhnlichkeit.
Die Palästinenser sind so viele Male frustriert worden. Sie haben erlebt, wie Versprechen gebrochen, wie in all diesen Jahren die israelischen Ansprüche nicht zurückgeschraubt wurden, um Raum für Verhandlungen zu haben, sondern sich im Gegenteil vergrößerten.
Wann immer ein dringliches Treffen zwischen Israelis und Palästinensern bevorsteht, kündigt die israelische Regierung den Bau neuer Siedlungen an, die wieder einen Teil des palästinensischen Territoriums wegnehmen.
Ich bin in dieser Sache wirklich kein Optimist, ich ziehe es vor, nicht darüber nachzudenken, und in diesem Sinne bin ich sogar froh, dass ich bald sterben werde und das vermutlich tragische Ende dessen, was geschieht, nicht erleben muss. Sie haben mein Buch Moderne und Ambivalenz gelesen?
[Peter Haffner ] Darin setzen Sie sich ja unter anderem mit dem Zionismus auseinander.
In dem Buch habe ich meine Meinung zum Thema gesagt. Der Zionismus war ein Produkt des europäischen Nationalismus, keine Frage.
Der Slogan von Theodor Herzl, dem Begründer des Zionismus, war: »Ein Land ohne ein Volk für ein Volk ohne ein Land.«
Das ist der Slogan, auf dem die ganze Episode des europäischen Imperialismus gründete.
Die Kolonien wurden als Niemandsland betrachtet. Die Kolonialherren nahmen keine Notiz davon, dass es da Menschen gibt, das waren für sie Wilde, die in primitiven Umständen lebten, in Höhlen, in Wäldern, fern der Zivilisation. Sie waren arm und machtlos, konnten vernachlässigt werden und wurden nicht als ein Problem erkannt.
Dasselbe passierte in Israel mit dem Zionismus. Ich denke, er ist das letzte Überbleibsel der imperialistischen Ära der euopäischen Geschichte. Nun, vielleicht nicht das letzte, es gibt ein paar andere, aber sicher das spektakulärste.
Und deshalb ist der Zionismus nichts als eine Variante des europäischen Imperialismus.
Aber ich kann Herzl verstehen. Es war die Idee seiner Zeit.
Wir sind ein zivilisiertes Volk, und wir werden die Zivilisation in dieses Land der Wilden bringen.
Anmerkung: Aus den Büchern von Zygunt Bauman hat "Dialektik der Ordnung, Die Moderne und der Holokaust" besondere Bedeutung.
"Der Holocaust wurde inmitten der modernen, rationalen Gesellschaft
konzipiert und durchgeführt, in einer hochentwickelten Zivilisation
und im Umfeld außergewöhnlicher kultureller Leistungen:
er muß daher als Problem dieser Gesellschaft,
Zivilisation und Kultur betrachtet werden."